

Veröffentlicht: 14. Juli 2010
Das Riesendach Unfall in Tisá
Die Sonne scheint. Endlich, nach sechs Wochenenden, der erste Samstag, an dem ich diese gelbe Kugel sehe. Wir fahren nach Tisá in der Hoffnung auf einen vielversprechenden Klettertag. Wir sind so heiß wie eine riesige Herde arabischer Hengste – mit dem kleinen Unterschied, dass unsere Herde nur aus zwei Mitgliedern besteht: Ctíra und mir.
Wir parken das Auto und ziehen uns schnell in unsere Klettersachen um. Ich habe eine neue Spezialhose – grün, aus dem Krankenhaus „entliehen“. Heute wird geklettert mit der Präzision eines chirurgischen Schnitts. Wir haben nur ein Problem: Wo fangen wir heute an? Schließlich sind wir hier zu Hause und manchmal kommt es uns vor, als würden wir immer wieder unsere Lieblingsrouten klettern. So ein Karussell schöner, sicherer Wege. Sicher insofern, dass sie wenigstens einen Haken haben und die Griffe nicht gleich zerbröseln, wenn man sie anfasst.
„Worauf wollen wir gehen?“, fragt mich Ctirad, während wir beide vor der Kasse schnaufen.
„Hast du schon einmal den Überhang der Giganten am Dicken gemacht?“, antworte ich und starre auf diesen Überhang.
Er gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, das wohl „Nein“ bedeuten sollte. Wahrscheinlich kämpft er noch mit dem Anstieg. Schließlich sind wir heißblütige Hengste – beinahe sind wir zu den Felsen gelaufen.
Wir stehen unter dem „Dicken“. Die ersten zwei Meter der Route sind senkrecht, dann beginnt es in einen Überhang überzugehen, danach richtet es sich wieder auf, und irgendwo in sieben Metern Höhe ist der erste Haken, ein weiterer befindet sich weiter rechts darüber. Seit mindestens fünf Jahren gehe ich hier mit gesenktem Blick vorbei und denke mir: „Eines Tages.“ Und letztens in der Kneipe habe ich doch „deutlich“ gehört, dass es ein schöner, leichter Weg sei. Ich weiß nur nicht mehr, bei wie vielen Bieren das eigentlich war. Man muss nur stark wie ein Stier sein und ebenso weise – und schon geht’s los!
Das Einzige, was mir nicht gefiel, war der etwa dreißig Zentimeter hohe Steinrand, der sich unter der ganzen Wand entlangzieht. Aber was soll's – ich bin eingeklettert. Vor drei Wochen bin ich aus Arco und Finale zurückgekommen, letztes Wochenende lief es in den Sušky-Felsen und am Panťák auch gut – also, worum geht’s eigentlich…
Nach einer Weile hänge ich schon wie ein Orang-Utan an den Armen und fühle mich überhaupt nicht mehr wie ein heißblütiger Vollblüter. Im Gegenteil – ich bin gar nicht mehr heißblütig. Jetzt interessieren mich nur noch die Sanduhr, die ich gerade gefädelt habe, und welche Schlinge ich da oben in diesen Riss setze. Schon bin ich dran. Ich stopfe einen Knoten hinein und fluche – vielleicht nur in Gedanken, vielleicht laut wie ein Maurer –, dass sich hier die graue Schlinge perfekt platzieren ließe, die allerdings unten in der Sanduhr festgeknotet ist, und dass diese hier einfach Mist ist. Um die Sache zu retten, setze ich etwas höher noch eine Schlinge.
Immer noch schwebe ich eingehängt an den inzwischen geschwollenen Unterarmen. Doch die neu gelegte Schlinge ist noch schlechter als ihre Freundin, und so klippe ich sie gar nicht ein. Lustig – zu Hause liegen unter meinem Bett zwei komplette Sätze Friends, Hexentrics, Klemmkeile, und hier spiele ich mit ein paar zugeschnittenen Drahtseilen herum. Dieser Sandstein! Die Hände tun weh. Ich muss jetzt direkt zum Haken durchziehen. Er ist nah, ein paar Zentimeter links oben. Nur verstehe ich nicht, warum meine Finger so eiskalt sind. Ich muss mich mit den Augen vergewissern, ob ich mich überhaupt noch halte.
„Pass auf, mir ist kalt!“, rufe ich nach unten, und es will mir nicht in den Kopf, wie das mit der Thermik eigentlich funktioniert – überall scheint die Sonne, es ist heiß wie in der Hölle, nur hier in dieser Nordwand hat der Frost wohl seinen Zauberstab vergessen. Und vor allem: Warum stehen wir Idioten nicht vorne an den sonnigen Massiven?
Ein Eskimo mit Eis am Stiel – so fühlte ich mich, als ich Schritt für Schritt dem Haken näherkam und mich vergewisserte, dass diese versalzenen Henkel halten und dass man im Sandstein schließlich nicht stürzt. Zumindest nicht unter dem ersten Haken! Plötzlich spüre ich, dass sich etwas verändert. In einem unvorstellbar kurzen Moment schießt mir durch den Kopf: „Alter, jetzt pumpst du nicht mehr!“
Kein Druck mehr, kein Schmerz in den Armen. Und langsam begreife ich, dass ich falle.
Schwarz... Was passiert? Warum liege ich am Boden? Neben mir ist Ctíra und ein Haufen deutscher Touristen – die hatten wohl eine Show. Ich schreie, sie sollen mich flach hinlegen. Mein Rücken tut höllisch weh. An die Kante dieses Steins gelehnt liege ich alles andere als bequem. Aber sie wollen mich nicht flachlegen – man dürfe mich nicht bewegen. Also schreie ich noch lauter, bis sie mich endlich gerade hinlegen. Die Deutschen decken mich mit einer Rettungsdecke zu, die ich sofort zerreiße. Dabei sind solche Rettungsdecken eigentlich super – ich habe selbst eine. Aber vor Schmerz oder vielleicht vor Nervosität hielt sie nicht lange. Und dann wieder schwarz...
Und schon war die Bergwacht da. Ich erinnere mich schwach, wie mich ein Mann von der Bergwacht in roter Jacke festhält – es war angenehm, nur weiß ich nicht mehr, wo er mich eigentlich hielt. Hoffentlich nur an der Hand. Wieder schwarz...
Die Männer von der Bergwacht tragen mich, dazu Kletterer aus den Felsen – von den Deutschen weiß ich nichts mehr, vielleicht habe ich sie mit der zerrissenen Decke verärgert. Alle sind unglaublich nett. Schwarz, aber nur kurz...
Bald erbreche ich in alle Richtungen. Es ist genau wie damals, als ich in einer halben Stunde eine Flasche Gin und etwas Tonic getrunken habe. Ich hätte damals beim Rum bleiben sollen. Tonic bekommt mir einfach nicht.
Ich liege schon im Krankenwagen. Den Sanitätern habe ich wohl einiges abverlangt. Zuerst habe ich irgendetwas davon erzählt, warum hier kein Hubschrauber ist, dass man von Tisá doch normalerweise fliegt und dass ich auf keinen Fall über die Straße fahren werde. Und als wäre das nicht genug, habe ich – als die Ärztin offenbar ihren Kollegen auf eine Luftblase in irgendetwas hingewiesen hat – wohl den Satz gesagt: „Na, das ist ja großartig. Ich überlebe den Sturz und jetzt verrecke ich hier an einer Luftblase im Blut!“
Im Krankenhaus in Ústí wurde ich in die Notaufnahme gebracht, und dort wartete schon eine Freundin. Na klar, die Kletterer haben überall ihre Kontakte, und mit den heutigen Handys verbreiten sich Neuigkeiten blitzschnell.
„Heeey, hallo!“, wimmere ich.
„Na, was hast du diesmal wieder angestellt, du Spezialist?“
„Ich habe mich vollgekotzt!“
Und schon liege ich auf dem Spineboard. Der Arzt konnte irgendwie nicht verstehen, woher ich diese Arzthose hatte, die ich trug, und meine spontane Theorie, dass ich sie einfach gefunden hätte, nahm er mir überhaupt nicht ab. Lange konnte ich mich sowieso nicht an ihnen erfreuen – sie zerschnitten mir sowohl das T-Shirt, die Unterhose als auch die grünen Hosen. Dann fangen sie an, all die angenehmen Dinge zu machen: Sand mit irgendetwas – wohl einem Meißel – aus meiner Nase zu holen, mich beim Waschen an den Füßen wahnsinnig zu kitzeln, später sogar mit einem Hammer darauf zu klopfen, mir einen Schlauch in die Harnblase zu schieben, mir Nadeln für Elefanten zu setzen und dabei makaber zu loben, wie famos dick meine Venen seien. Und mein Kopf dröhnt wie verrückt, aber das sei nach einer Gehirnerschütterung wohl normal. Auf dem Weg zur Intensivstation durfte ich noch einen Abstecher in den örtlichen Tunnel machen, der mich durchleuchtete. Ich kam mir vor wie Willis im „Fünften Element“ – nur mit dem kleinen Unterschied, dass sie vergessen hatten, mir Milla Jovovich mitzugeben. Grrr.
Als endlich Ruhe einkehrte, kam der Arzt mit den ersten köstlichen Worten: „Mann, Sie können wirklich fallen!“ und noch etwas von großem Glück. Ich habe einen Bruch des Querfortsatzes des neunten Wirbels – das sei halb so schlimm – sowie eine Lungenprellung mit Pneumothorax. Jetzt ist mir auch klar, warum ich angeblich die ersten Minuten unter der Wand gegrunzt habe wie ein Schwein kurz vor der Schlachtung. Eigentlich habe ich zuerst gar nicht geatmet – wie ein toter Käfer – aber als mein Partner mich mit der Ausrede Mund-zu-Mund-Beatmung küssen wollte, sprang ich sofort wieder an. Kein Mann kriegt mich nämlich! Erst dann kam das Grunzen, weil meine Lunge nicht funktionierte. Das Röntgenergebnis fügte noch Brüche der zweiten, dritten und vierten Rippe irgendwo beim rechten Schulterblatt hinzu. Das Handgelenk ist nur geprellt – mit einem blauen Fleck, zehnmal größer als das Zeichen des mexikanischen Dollars, und in Farben… na, aber hallo.
Danach habe ich nur noch die angenehme Pflege des Krankenhauspersonals, die „reichhaltige“ örtliche Kost und die großartigen Schmerzmittel-Injektionen genossen. Ich empfing liebe Besuche von Freunden, deren Ziel es war, mich zu Tode zu lachen. Denn meine Argumente, dass Lachen bei Knochenbrüchen nicht heilt, sondern weh tut, haben sie irgendwie nicht ernst genommen.
Und was ist eigentlich an diesem Felsen passiert? Ich weiß gar nichts. Richtig erinnern kann ich mich erst an die Fahrt im Krankenwagen. Aber an der Stelle, an der ich mich zuletzt festgehalten habe, ist ein ordentliches Stück Sandstein herausgebrochen – und etwas weiter unten findet man die Uhren nicht mehr. Dort hängt nur noch die nicht eingehängte Bandschlinge.
Zwanzig Tage nach dem Sturz habe ich wieder meine erste Route im Sandstein vorgestiegen. Und nicht einmal drei Monate nach diesem schmerzhaften Erlebnis – an meinem Geburtstag – habe ich die Route „Überhang der Giganten“ endlich komplett geklettert. Diesmal allerdings am sichereren, zweiten Seilende. Es ist ziemlich heftig, und ich bin wohl verrückt, dass ich das einfach so gleich im Onsight versucht habe. Wahrscheinlich bin ich wirklich kein Gigant.
P.S.: Danke an alle, die mir in irgendeiner Form geholfen haben, und für die zerstörte Rettungsdecke entschuldige ich mich. Außerdem würde ich gerne denjenigen kennenlernen, der mir von diesem Felsen die nicht eingehängte schwarz-weiße Bandschlinge geklaut hat.
Text: David „Ještěrka“ Michovský. Dieser Artikel wurde auch in der Kletterzeitschrift Montana 6/2004 veröffentlicht – und steht hier, weil man aus den Fehlern anderer besser lernt und es weniger weh tut.
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